Warum TUNAWEZA?
Das Thema Behinderung ist allgegenwärtig, wenn man durch die Straßen, Gassen und versteckten Winkel der Großstadt Mwanza in Tansania irrt: Alle paar Meter sitzt ein Bettler am Straßenrand, der sich nur kriechend fortbewegen kann und um Geld bittet, damit er sich wenigstens einen Tee leisten kann. Ein blinder Mann steht vor der Moschee und erfüllt die ganze Gasse mit seinem wunderbaren Gesang, während er die Hände aufhält, um auf etwas Hilfe zu hoffen. Frauen mit gelähmten Beinen bewegen sich auf ihren dreirädrigen Gefährten durch die Menschenmenge. Ein Straßenjunge mit nur einem Bein eilt auf Krücken durch die Straßen und ein Albino versteckt sich unter seinem großen Sonnenhut, um nicht aufzufallen. Am Straßenrand stehen einige Männer, die beobachten, tuscheln und sich über eine Frau mit einer geistigen Behinderung lustig machen, die in völlig zerlumpter Kleidung auf dem Platz sitzt und wieder und wieder die gleichen Bewegungen und Worte wiederholt.
Genau auf diese Weise erlebte ich die Welt von Menschen mit einer Behinderung während meines ein-jährigen Aufenthaltes in Tansania – Armut und Behinderung als ein Teufelskreis, den es zu durchbrechen gilt.
Ich habe erfahren, dass Menschen noch sehr viel extremer durch ihre Umwelt behindert und exkludiert werden können, als das in unserer westlichen Welt überhaupt vorstellbar ist. In Tansania ist es keineswegs selbstverständlich, dass Kinder, die mit einer Behinderung geboren werden, überleben oder falls sie diesen Schritt geschafft haben, von der Gesellschaft und ihren Eltern als eigenständiges Individuum akzeptiert werden.
Ein Schritt in eine größere Selbständigkeit, Teilhabe und Akzeptanz ist bei Armut generell eine gute Bildung - sowohl für Kinder ohne als auch mit einer Behinderung.
Am Beispiel Mwanza, der zweitgrößten Stadt Tansanias mit über eine Millionen Einwohnern, kann man aber erschreckend feststellen, dass genau diese benachteiligten Kinder meist völlig durch das Raster fallen und kaum Chancen auf Bildung haben. Im Moment bestehen ganze fünf Klassen für Kinder mit einer Behinderung im gesamten Mwanza. Nach Besuchen in diesen Klassen habe ich den Eindruck, dass dort häufig keine qualifizierte Förderung stattfindet, sondern die Kinder eher ‚abgestellt’ werden, um den Eltern tagsüber nicht zur Last zu fallen. Eine einzige Schule mit zwei Klassen à 20 SchülerInnen, die es tatsächlich schafft den Kindern mit verschiedensten Behinderungen gerecht zu werden und ihnen eine gute Bildung zu ermöglichen, lernte ich während meines kleinen Praktikums in HURUMA kennen.
Wenn es die Kinder also doch in die Schule schaffen, gibt es kaum Ausbildungsmöglichkeiten danach. Meist kehren sie wieder in ihre Familien zurück, leben dort, ohne Förderung, vor sich hin und können nicht mehr von ihrer Bildung profitieren. Vor allem die Kinder mit einer geistigen Behinderung oder Lernbehinderung haben dann in der Gesellschaft keine Zukunftsperspektiven mehr.
Im Januar diesen Jahres wurde schließlich nach langer Vorlaufzeiten die Werkstatt TUNAWEZA gegründet, wo vor allem junge Menschen mit einer geistigen oder Lernbehinderung eine zwei-jährige Berufsausbildung erhalten können. Gegründet wurde dieses Projekt von einigen engagierten Tansaniern und Europäern, die in Mwanza leben, Erfahrungen in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung haben und deren Situation in Mwanza ändern möchten. Allen voran stehen ein sehr zielstrebiger tansanischer Sonderpädagoge und eine deutsche Heilpädagogin, die das Zentrum leiten und gemeinsam das ganzheitliche Konzept in die Tat umsetzen.
Seit der Gründung der Werkstatt bin ich im engen Kontakt mit der Leiterin Jana Schiemenz, mit der ich immer wieder über die Ansätze, die Erfahrungen, die Reaktionen der Gemeinde auf die Werkstatt und vieles mehr diskutiere.
Nach fast zwei Jahren Erfahrung in der Entwicklungszusammenarbeit und dem Kennenlernen europäischer Projekte in einem sogenannten Entwicklungsland, bin ich sehr skeptisch geworden gegenüber deren Umsetzung, kritisiere häufig und kann meist keine Nachhaltigkeit in den Projekten erkennen.
Das ganze Konzept, das hinter dem Projekt TUNAWEZA steht, hat mich allerdings von Anfang an völlig überzeugt.
Der heilpädagogische Ansatz der deutschen Leiterin und das Kulturverständnis so wie die sonderpädagogische Einstellung des tansanischen Leiters führt zu einer Arbeitsweise, die das Thema Behinderung sehr komplex angeht und wichtige Zusammenhänge für eine erfolgreiche Arbeit schafft. Auch für mich wird sich die Arbeit in der Werkstatt nicht nur auf das Betreuen der Arbeit der Jugendlichen beschränken. Im gleichen Maße muss die Zusammenarbeit mit den Eltern sehr ernst genommen werden, die die Potenziale ihrer Kinder erst selbst erleben müssen, um daran zu glauben. Genauso ist starke Aufklärungsarbeit in der Gemeinde nötig, um den Jugendlichen die nötige Akzeptanz, Toleranz und gegenseitigen Respekt zu ermöglichen.
Bei diesem Projekt geht es nicht nur um 15 Ausbildungsplätze für junge Menschen mit einer Behinderung, viel mehr geht es darum ein neues Bewusstsein in der Gesellschaft zu schaffen, Heilpädagogik in ihren Grundideen zu leben und verbreiten und allen anderen Menschen mit einer Behinderung eine bessere Startchance in ihr Leben mit besseren Lebensbedingungen schaffen zu können.
Meine Überzeugung, dass diese Arbeit in TUNAWEZA der erste Schritt für dieses Ziel ist und dies auch in der näheren Umgebung der Werkstatt schon jetzt zu spüren ist, motiviert mich jeden Tag aufs Neue.
So freue ich mich beispielsweise immer wieder von den Fortschritten von Steven, einem Jungen mit Autismus, zu hören, den ich letztes Jahr kennengelernt habe. Damals war er sehr in sich gekehrt, hat nicht geredet, und war geistig immer abwesend. Jetzt höre ich, dass er mit 15Jahren das erste Mal kehren und kochen darf, dass er lernt, wie man alleine mit dem Bus fährt und ihm immer wieder Verantwortung übergeben wird. Hinzu kommt, dass sein Onkel völlig begeistert von Stevens Können ist, nun selbst im Zentrum mithilft und auch sonst überall stolz von seinem Neffen erzählt. Steven selbst redet immer mehr, wird offener und traut sich sehr viel mehr zu als zu Beginn – und das alles nach nur fünf Monaten. Das Konzept scheint sich also definitiv zu bewähren.
Deshalb habe ich mit einigen anderen HeilpädagogInnen und Interessierten in ganz enger Zusammenarbeit mit TUNAWEZA in Mwanza auch hier in Deutschland einen Förderverein Tunaweza e.V. gegründet, der das Projekt in der Anfangsphase unterstützen soll und bei eventueller Ausweitung des Projekts den finanziellen Rückhalt gibt. Dies soll aber keine Dauerlösung sein, denn das Ziel ist die spätere Unabhängigkeit des Zentrums. Als 1.Vorsitzende des Vereins liegt mir das Projekt TUNAWEZA natürlich besonders am Herzen und ich kann es kaum erwarten bald tatkräftig vor Ort aktiv zu werden.
Ich denke, dass ich in dieser Zeit Unmengen an Wissen und praktischer Erfahrung für mein Studium der Heilpädagogik mitnehmen werde – Wissen, das mich vor allem immer wieder an die Basis zurückbringt, denn an keinem anderen Ort kann man besser verstehen, wie wichtig ganzheitliche Förderung sein kann. Meiner Meinung nach ist der Erfolg TUNAWEZAs nur durch die enge Zusammenarbeit mit den Familien, der Öffentlichkeit und anderen Institutionen überhaupt möglich.
Ein ganzes Jahr habe ich bisher nun schon in Mwanza in Tansania gelebt und gearbeitet, habe die Kultur und die Sprache kennen gelernt, sehr gute Freunde gefunden und mich immer wieder anstecken lassen von der Lebensfreude der Tansanier. Meine Persönlichkeit wurde in dieser intensiven Zeit sehr stark geprägt und schon jetzt freue ich mich wieder sehr darauf unzählige prägende Erfahrungen zu machen, interessante Menschen kennen zu lernen und jeden Tag neu dazu zu lernen.
Auch in meiner beruflichen Zukunft sehe ich mich weniger in Deutschland zu Hause als in einem der weniger entwickelten Länder unserer Welt. Denn genau hier ist meiner Meinung nach das heilpädagogische Konzept der Ganzheitlichkeit bei der Integration und Inklusion von Menschen mit Behinderung von sehr wichtiger Bedeutung. Deshalb wird das Semester in Tansania für mich sicherlich auch für meine spätere berufliche Richtung wegweisend sein.
Ich bin der Meinung jeder Mensch hat ein Recht auf Bildung, gegenseitigen Respekt und Wertschätzung. Deshalb bin ich sehr glücklich, wenigstens einen kleinen Teil dazu beitragen zu können, dass sich zumindest die Lebensbedingungen und Chancen von Menschen mit einer Behinderung in der Stadt Mwanza nachhaltig verbessern können.